Wie du Eins wirst mit der Natur
Der Weitwinkel-Blick hilft dir, Wildtiere aus der Nähe zu beobachten
Wildtiere sind scheu, sie sind eher in der Dämmerung und nachts unterwegs. Vögel bilden da eine Ausnahme: Tagsüber sehen wir sie, aber nicht aus der Nähe. Der Weitwinkel-Blick hilft dir dabei, Wildtiere nah an dich herankommen zu lassen und dich mit der Natur noch tiefer zu verbinden, als du es bisher erlebt hast.
Diesen Weitwinkelblick lernen die Teilnehmer bei “Wildniswandern”, einer Wildnisschule aus Tübingen. Lisa Moser, eine Wildnispädagogin aus dem Bayernwald, hat ihn uns in einem Kurs in Waldhessen beigebracht.
Die Umgebung sehen ohne Fokus
Wir Teilnehmer stellen uns mit den Armen ausgebreitet auf und blicken sanft auf einen beliebigen Punkt. Die Arme bildeten die Grenze unseres Blickfelds. Dann erweitern wir den Blick, lassen den Fokus auf einen bestimmten Punkt los und versuchen, die gesamte Umgebung wahrzunehmen. Auch, wenn sie nur indirekt in unserem Blickfeld unscharf zu erkennen ist.
Wenn du dich auf den weiten Winkel ohne scharfen Fokus einlässt, nimmst du mehr den Teil der Umgebung war, der sich nicht direkt vor dir befindet. Wir schließen bei der Übung also mehr und mehr die Bäume, die Vögel und den Raum des Himmels in unser Blickfeld mit ein und nehmen das „Ganze“ wahr. Die Details werden eine große Vielfalt.
Absichtslos das Tier erscheinen lassen
Stelle dir vor, wie sie oder er erscheint, wie sie sanft läuft oder schnauft und deinen Weg kreuzt.
Suche es nicht, finde es. Das ist nicht so einfach, aber mit etwas üben gelingt es dir immer besser, das Tier ohne Absicht in deine Nähe einzuladen.
In dem Moment, wo das Tier in deinem Weitwinkel-Blickfeld erscheint, bist du vorbereitet: Dein Weitwinkelblick nimmt jede Regung wahr, du bist eins mit der Umgebung und absichtslos. Rehe sehen dich als Baum, wenn du regungslos dastehst.
Während das Tier auftaucht erweitere deinen Fokus hin zu seinem Lebensraum – dem Gras im Vordergrund, dem Wald im Mittelgrund bis zum Horizont und dem Raum darüber hinaus.
Sei ein menschliches Tier, unbedeutend und eins von vielen Wesen auf diesem Planeten. So findest du deinen Frieden, weg von den Stressgedanken und teilst diesen glücklichen Moment mit dem Wildtier.
Wahrnehmung mit allen Sinnen
Sehen ist nur ein Sinn von vielen, benutze auch die anderen Sinne wie hören und riechen. Vielleicht wirst du auch schmecken, wenn du auf dem Weg ein essbares Wildkraut entdeckst. Verliere dich in dem natürlichen Lebensraum, indem du dich aufhältst und nimm Vogellaute, krabbeln oder rascheln des Windes wahr.
Ich lasse den Blick öfter vom Vordergrund bis hin zum Horizont schweifen, so dass ich den ganzen Raum erleben kann. Das schließt den Raum ein, den ich nicht sehe, hinter dem Horizont und sogar das unendliche Universum.
Das Unbekannte erwartet dich
Bei meiner Art des Weitwinkelblicks bin ich zusätzlich in einem offenen Fokus, den ich bei meinen Walking-Meditations gelernt habe. Es ist eine Art Trance, die Gehirnwellen werden dabei langsamer und ich entspanne mich.
Der offene Fokus gleicht dem absichtslosen Wahrnehmen. So fokussiere ich mich auf den stillen Lebensraum um mich herum und vergesse alle „weltlichen“ Dinge wie E-Mails, Treffen oder Pläne, die ich erledigen muss.
In der Natur passiert augenscheinlich nicht viel, daher ist es nicht so einfach, sich ohne den Gedankenlärm des Alltags auf das Erleben einzulassen. Wir müssen uns ein Stück weit auf das Unbekannte einlassen und den Fokus wegnehmen von dem, was wir schon kennen.
Was, wenn es nicht klappt?
Das hier ist kein Wildtierbeobachtungs-Wettbewerb. Mache dir keinen Druck, besondere Wildtiere besonders nahe zu beobachten. Es geht vielmehr darum, in dem Moment der Übung eins zu werden mit der Lebendigkeit, die dich umgibt. Nimm wahr, wie auch du Teil der Natur und der Wesen bist und lasse dich auf diese unbekannte Welt ein.
Sobald du ungeduldig wirst oder absichtsvoll (das ist mir anfangs öfter passiert), versuche dich immer wieder auf die Wahrnehmung des weiten Raums zu fokussieren. Die Technik des Weitwinkel-Blicks hilft dir dabei.
Wozu ist der Weitwinkel-Blick gut?
Tiefe Verbundenheit mit der natürlichen Welt
Wildtiere aus der Nähe beobachten
Stress abbauen
Schnelle Wahrnehmung von Tieren im ganzen Blickwinkel
Sicherheitsgefühl
Wenn wir in unserem "Normalzustand" durch die Natur laufen, denken wir meist an die Dinge, die wir erledigen oder an die Personen, die wir treffen werden. Viele von uns, mich eingeschlossen, befinden sich oft im Flucht-, Kampf-, oder Versteckmodus. Ein Modus, den uns die Natur geschenkt hat, um in Stressmomenten wegrennen oder kämpfen zu können
Dabei verringert der Parasymphatikus seine Leistung, der Nerv, der für Entspannung sorgt. Wenn das zu einem Dauerzustand wird, verlieren wir die Fähigkeit, ruhig zu werden. Doch Mutter Erde sorgt dafür, dass wir in der grünen, stillen Natur wieder unsere Harmonie finden. Sie schenkt uns einen Raum, in dem wir unsere geistigen Flügel ausbreiten können.
Finde deinen Sweet Spot
Wo ist der beste Platz zum Beobachten? Das liegt ganz an deinen Vorlieben: Vielleicht fühlst du dich wohl in einem schattigen Wald unter Bäumen oder auf einer freien Fläche mit Ausblick. Finde im Laufe der Zeit heraus, wo dein Lieblingsplatz ist.
Das geht am besten, wenn du eine Sitzmatte mitnimmst und dich für eine halbe Stunde, am besten für ein bis zwei Stunden, an deine auserwählte Stelle setzt. Übe den Weitwinkelblick schon auf dem Weg hin zu deinem Platz.
Diesen Platz nenne ich "Sweet Spot", auf Englisch bedeutet das eine Situation, in der alles gut läuft. Es ist ein magischer Ort, der sich richtig für dich anfühlt und zu dem du immer wieder zurückkehren willst. Dort lernst du deinen Baum kennen, deine Wiese und deine Pflanzen, mit denen du langsam vertraut wirst.
Irgendwann fühlt sich dieser Platz in der Natur an wie dein eigenes Wohnzimmer. Die Melodien der Vögel lassen dich zu Hause fühlen.
Bloß nicht gut duften
Stell dir vor, du gehst durch den Wald, genießt die frische Luft und plötzlich geht jemand an dir vorbei, der nach Parfüm duftet. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich finde diesen künstlichen Duft so unangenehm, dass ich selbst kein Parfüm oder andere Duftstoffe an mir trage, wenn ich outdoor bin.
Es passt einfach nicht zu der Waldluft, die ja im Grunde genommen nach Verwesung der Pflanzenteile riecht. Dennoch ist es ein wunderbarer, würziger Duft. Wildtiere haben bessere Nasen, als wir Menschen. Rehe zum Beispiel können einen Menschen auf mehr als 300 Meter Entfernung wittern. Wenn die Windrichtung nachteilig ist, wir das Wildtier wahrscheinlich vor dir die Flucht ergreifen.
Um das zu verhindern, trage am besten ungewaschene, alte Kleidung, die du auf dem Balkon oder im Keller lagerst. Sobald du raus gehst zu deinem Sweet Spot kannst du sie anziehen. Benutze an dem Tag kein Deo, Haarspray oder sonstige Bodysprays, all das lassen die Tiere dein Menschsein erkennen und lassen sie in die Flucht schlagen.
Laute Funktionskleidung
Die deutschen sind im Ausland für ihre Funktionskleidung bekannt: Bei uns geht es um Funktion und nicht Mode, nach dem Motto "Form follows function". Was erstmal Sinn macht, wenn man sich draußen bei Wind und Wetter aufhält.
Leider hat die Funktionskleidung einen Nachteil: Sie raschelt. In einer Stadt merkst du das laute Reiben des Kunststoffs nicht, aber in einem stillen Wald schon. Daher hat uns Lisa empfohlen, Wollkleidung zu tragen, wie zum Beispiel Jacken aus Wollfilz. Sie halten warm und sind bis zu einem gewissen Grad regendicht.
Auch wenn sie bei Regen nass werden, halten sie immer noch warm. In den wärmeren Monaten kannst du mehrere Schichten Baumwollkleidung tragen, je nach Temperatur.
Auf leisen Sohlen
Bei unseren Schleichübungen im Wildniskurs, bei denen wir uns unbemerkt durch den Wald bewegen sollten, konnte ich mit Barfußschuhen ganz leise auftreten. Durch ihre dünnen Sohlen entsteht auch ein besseres Trittgefühl.
Wanderschuhe dagegen sind klobig, mit ihnen fällt es etwas schwerer, leise aufzutreten. Wenn die Barfußschuhe groß genug sind, kannst du auch dicke Socken in ihnen tragen.
Tiere lehren uns den Frieden
Martha Beck, eine amerikanische Autorin, schreibt in ihrem Buch "Finding your way in a wild new world" über Wortlosigkeit, ein Zustand, den Wildtiere anwenden:
"Tiere verweilen ständig in der Wortlosigkeit und operieren mit Leichtigkeit durch das Einssein. Sie übermitteln Informationen, Frieden und Heilung mit einer Regelmäßigkeit, die von modernen Gesellschaften fast völlig übersehen wird."
Ihrer Ansicht nach haben die modernen Menschen die Kommunikation und das Zusammenleben mit lebedigen Kreaturen vergessen, das sei der Grund, warum der Mensch die Natur zerstöre.
Wenn wir uns selbst und die Erde heilen wollen, dann erfordert das eine tiefe Verbindung zu nicht-menschlichen Kreaturen und zur lebendigen Welt:
"Deine wahre Natur verlangt wahrscheinlich, dass du dich mit Tieren auf eine tiefere Art und Weise verbindest, als es deine Sozialisation je gefördert oder gar erlaubt hat."
Daher kann es sein, dass du dich fremd fühlst, wenn du anfängst, den Weitwinkelblick zu üben. Je mehr wir uns auf Naturerleben einlassen, umso normaler werden wir uns dabei fühlen.
Mäuse als Wildtierbeobachtung
Ich sitze am Waldrand zwischen Bäumen und blicke auf eine einsame Landstraße, am Straßenrand ein altes Fachwerkhaus, davor ein verrostetes landwirtschaftliches Gerät. Ab und an kommen Geräusche aus der Richtung des Hauses, ein Auto unterbricht kurz die Stille. Nur das Singen der Meisen, die emsig zwischen den Bäumen neben mir hin und herfliegen, bleibt beständig.
Der Waldrand neben mir lässt mich sicher fühlen, die Weite der Wiesen befreit mich innerlich.
Es weht ein kühler Wind im April. Das Rascheln von zwei Mäusen, die in ein Erdloch krabbeln und in Lichtgeschwindigkeit in einem Loch drei Meter weiter wieder auftauchen.
Ich atme ruhig, lasse meine Gedanken ziehen.
Der Kolkrabe krächzt warm, während der Rotmilan seine Kreise über dem Waldstück hinter der Straße zieht. Zwischendurch frage ich mich, was der Sinn der Übung ist, doch dann lasse ich mich wieder auf sie ein.
Vor meinem Auge sehe ich einen Traum, in dem ich in einer sonnigen, südeuropäischen Landschaft spazieren gehe. Wie zwei Dias, die sich übereinander schieben, erlebe ich den Traum und den jetzigen Moment gleichzeitig, es wirkt surreal um mich herum.
Die Maus setzt sich direkt an meinen Schuh und beobachtet mich, so als wollte sie mich begrüßen.
Was erleben die Profis?
Lisa erzählte uns, während sie die Übung mit uns machte, wie ein Hase in ihre Nähe kam und sich ein paar Meter neben ihr aufhielt. Sie war offensichtlich in einem absichtslosen Zustand.
Eine andere Leiterin auf einem Camp in Tübingen sagte, dass sie lange hinter den Bussarden am Melatenfriedhof hergelaufen sei und sie beobachtet hätte. Nie traute sich einer in ihre Nähe. Bis sie sich hinsetzte und überlegte, was sie alles falsch gemacht habe. Da flog der Bussard, den sie nur von weitem beobachtet hatte, in ihre Richtung und streifte mit der Oberseite seiner Krallen ihren Rücken.
So intensive Erlebnisse kannst du auch erreichen, wenn du absichtslos den Weitwinkelblick übst.
Welches Equipment brauchst du dafür?
1. Matte zum sitzen oder liegen
2. Fernglas zur Vogelbeobachtung
3. Karte zur Orientierung
4. Erste-Hilfe-Set
5. Tierbestimmungsbuch
Diese Liste ist natürlich nicht vollständig, aber sie ist die Grundlage, auf der du deine eigene Liste erstellen kannst: Eine Wasserflasche wirst du wahrscheinlich dabei haben, ebenso dein Handy oder deine Brille. Falls du übernachten willst, brauchst du mehr Equipment, wie ein Tarp, eine einwandige Stahlflasche, mit der du das Wasser abkochen kannst und Feueranzünder.
Dein Equipment hängt also von deinen individuellen Plänen ab. Plane gut im Voraus und checke deine gepackten Sachen, ob du wirklich alles mitgenommen hast.
Weitwinkel auf einen Blick - zusammengefasst:
Breite deine Arme so weit aus, dass du sie noch in deinem Blickfeld siehst
Öffnen deinen Fokus und nimm deine gesamte Umgebung wahr
Versetze dich in einen weich fokussierten, leicht meditativen Zustand
Geh an einen Ort in der Natur, an dem du dich wohl fühlst
Nimm Vorder- und Hintergrund bis zum Horizont wahr und lass die Gedanken los
Stell dir im Geiste vor, wie Wildtiere in deiner Nähe auftauchen
Werde eins mit der Natur und sei möglichst absichtslos
Lass dich überraschen von dem, was geschieht und beobachte mit Freude
Hasen-Erlebnis an einem ganz normalen Tag
Ich war weder betont absichtslos noch in Trance, sondern las einfach ein Buch am Waldrand in der Nähe von meinem Zuhause. Als ich aufblickte, sah ich eine Rehmutter mit ihren zwei Rehkitzen ein paar Meter weiter genüsslich an einem Busch knabbern.
Sie blieben noch eine Weile da und ich tat so, als würde ich weiterlesen. In Wirklichkeit beobachtete ich sie im Augenwinkel. Da merkte ich, dass sie mein Beobachten spürten, es war ihnen nicht geheuer. Sie gingen langsam genüsslich kauend zusammen zurück in den Wald.
Auf dem Heimweg sah ich einen Hasen auf einem Wildwechsel sitzen. Er schaute in meine Richtung und sah aus, als wolle er mich begrüßen und wissen, wer sich da für ihn interessiert. Hinter ihm stand direkt ein Reh, es lief weg. Später auf dem Weg begegnete mir wieder ein Reh.
Absichtslos bedeutete in dem Fall, nur ein Buch zu lesen.
Wirst du den Weitwinkel-Blick ausprobieren? Was sind deine Erlebnisse?
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